Und immer wieder den Blick nach oben richten
Eine Satellitengeschichte aus Graz, mur.sat Team 
Reni Hofmüller


Graz hat mit dem Projekt mur.sat eine einzigartige Situation: ein Kernteam* aus den Bereichen Kunst, Elektronik und Softwareentwicklung  konzipiert und baut den Picosatelliten MURSAT1 (750 Gramm Maximalgewicht, 13cm hoch, 12,5cm Durchmesser), der irgendwann in den Orbit fliegen soll. 2009 von mur.at initiiert, wird der MURSAT1 im realraum (der Grazer Hackerspace) ausgetüftelt und gebaut. Das esc medien kunst labor ist der Ort für künstlerische Umsetzungen, wie u.a. die Ausstellung Covered Skies im Mai/Juni 2012 oder die Teilnahme am ORF musikprotokoll im Oktober 2012 mit Satelliten-Sonifikationen. Das Grundmodell des Tube-Sat wurde von Interorbital Systems IOS entwickelt. IOS ist in der Mojave-Wüste in Kalifornien zu Hause und entwickelt auch die Rakete, mit der der MURSAT1 gemeinsam mit 31 weiteren Kleinstsatelliten in den Orbit gebracht werden wird. Kostenpunkt für die Basisbauteile und den Launch in den Orbit: € 6.000,- 
Beteiligte Organisationen
Initiatorin: mur.at
Projektteam: esc medien kunst labor, mur.at, realraum
* Kernteam: derzeit (2015): Hannes Fiechtner, Jogi Hofmüller, Reni Hofmüller, Günther Jernej, Ernst Pölzl und Christian Pointner.


In einer Höhe von 310km wird er mit ca. 28.000km/h in 90 Minuten einmal um den Globus sausen. Permanent sendet er seine Telemetriebake: seinen Namen, den Energiestatus seiner Solarzellen und Akkus,  seine Temperatur. 
Der Künstler GX Jupitter-Larsen hat unter dem Titel “Orbit about the Polywave” (in Anlehnung an eine Performance, in der er seine Schritte auf der Zugfahrt von Venedig nach Paris zählte) vorgeschlagen, diese Aussendungen wie Schritte zu zählen und so aus MURSAT1 den ersten Performer im Orbit zu machen. 
MURSAT1 wird Partikeleinschläge mit einem Körperschallmikrophon (Piezo) aufnehmen, Selbstportraits von sich machen und diese Aufnahmen an die Erde senden. Neben diesen erst im Orbit entstehenden Daten hat MURSAT1 auch schon auf der Erde aufgezeichnete Daten mit im Gepäck. Die Radiosendung “Vapor Trails of Europe” von alien productions Wien für das Kunstradio und deren EBU-Satelliten, in dem es um Vorstellungen von Europa ging, wird auf 1 KB kompromiert und bei ausreichend vorhandenem Strom ausgesandt. Eva Stern realisierte unter dem Titel “Wahrnehmende der Weltenklänge” eine Workshopserie mit Kindern und Jugendlichen in Graz. Darin ging es um die Auseinandersetzung mit der Welt, die uns umgibt. Am Ende jedes Workshops sammelte sie die Wünsche der Kinder. Diese Wünsche reisen mit dem Satelliten um die Welt. Wenn MURSAT1 an seinem Ende verglüht, wird er zur Sternschnuppe, die vielleicht wieder Wünsche auslösen wird. Empfangbar ist das alles frei und unverschlüsselt im Amateurfunkfrequenzspektrum.
Ein über ein Webinterface einschaltbare LED-Leuchte (Idee: Hannes Fiechtner) wird die erste Möglichkeit “für jede/n” zur Aktivierung eines Prozesses auf einem Satelliten sein.  Mit “Poor People's Space Travel” wird für ein paar Menschen auch der Traum der Reise ins All wahr werden, zumindest mit einem einzelnen Haar: eine Idee von Wolfgang Reinisch.
Und wir nehmen jemanden mit: Going to my homeplanet, ein Vorschlag von Leo Kreisel-Strauss. “Man kann sich den Meteoritenstaub als intelligente Materie vorstellen, die quasi eine Art Fluchtversuch via mur-Satellit unternimmt (wirkliche Fluchthelfer sind überAll gefordert), ohne vermutlich wirklich am ursprünglichen Ort anzukommen, aber einer Wahrnehmung – einer molekularen Anziehungskraft folgt, die in sich eine Ahnung einer wirklichen Verbindung gespeichert hat. Vielleicht geschieht das in der Zeit vor Wiedereintritt = Verbrennung in die Erdatmosphäre. Alles keine Frage der Schwer-, sondern der Vorstellungskraft.”
Und last but not least: der alien-encounter-counter, mit einem Knopf an der Außenhülle des MURSAT1, eine Idee von Christian Pointner: “Aliens, hier drücken” (über die Sprache haben wir uns noch nicht geeinigt) und einem Counterpart auf der Erde, im noch zu bauenden Spacecenter, einem riesigen Alarmknopf. 
Wenn wir den Raum über uns als Teil des Öffentlichen Raumes begreifen, rückt die Frage nach der Mitbestimmbarkeit ins Zentrum: wer stellt die Fragen? 
Seit gerade einmal einem halben Jahrhundert können Menschen Satelliten ins All schießen. 
Der Flug des Sputnik wurde damals, 1957, von Millionen Menschen mitverfolgt. Noch größeres Aufsehen erregte am 12. April 1961 Juri Gagarins Flug in den Orbit, der erste Mensch, der den Planeten verlassen hatte.
Das Rennen um die “Vorherrschaft” im All war vom Kalten Krieg bestimmt, die Sowjets hatten als erste den Flug um die Erde geschafft, die US-Amerikaner betraten als erste den Mond. 


Mittlerweile sind Satelliten aus unserem Technologiealltag nicht mehr wegzudenken: TV- und Internetnetzwerke, die gleichzeitig Ideen des Lokalen wie auch der globalisierten Verbundenheit generieren. GPS bestimmt unsere Vorstellung von Verortetheit und dem Navi wird mehr Vertrauen geschenkt als der/dem Beifahrer*in. Satelliten versorgen uns mit Bildern der Welt mittels geo-kartografierten Fotografien und erweitern unsere Vorstellungen über das Universum durch Aufnahmen des Hubble Teleskops. Dabei sind die Satelliten gleichermaßen allgegenwärtig und unsichtbar. Sie sind “obskure Medienobjekte” (Lisa Parks). Und sie sind militärisch unersetzbar, wie sich in der Omnipräsenz im Drohneneinsatz täglich zeigt, wenn auch nicht “uns”, den Menschen im sogenannten Westen. Wie können wir primär fasziniert sein von einer Technologie, die in anderen Teilen der Welt dazu führt, dass Kinder den bedeckten Himmel dem blauen Strahlen vorziehen, “weil dann die Drohnen nicht fliegen können.”?
Gleichzeitig hat sich eine Vielzahl von Praktiken und Kulturen entwickelt, die Satelliten und deren Technologien als Material verstehen. Manche “tracken” Satelliten und berechnen deren Orbits, ua. die von geheimen Militärsatelliten, andere nutzen sie als Funkrelaisstationen oder bauen und betreiben ihre eigenen. 


Von der Sichtbarmachung der Rolle von Satelliten für lokale und globale Netzwerke, über die Konstruktion von Landschaft, die Machtverteilung und die Entscheidung über die technischen Entwicklungen selbst - Satellitentechnologie wird thematisch von Künstler*innen dazu genutzt, individuelle Wege zu verfolgen, und Geschichten zu erzählen, die politische wie auch poetische Aspekte sichtbar machen. Es ist kein Zufall, dass es Künstler*innen sind, die Satellitentechnologie verwenden, um obskure geopolitische Verbindungen (Ursula Biemann) aufzudecken oder mit sogenannten Nicht-Expert*innen über spielerische Zugänge sich der Satelliten zu ermächtigen (Joanna Griffin). 
Die normalerweise übliche Abschottung und Abgeschiedenheit der technischen Entwicklungen von Satelliten kann repräsentativ für allgemeine politische Entwicklungen gesehen werden. Und hier setzt das Projekt mur.sat an: selber bauen, selber Fragen stellen, mitreden.
Ziel ist die Teilhabe an einem Raum und den auf diesen bezogene Praktiken und Techniken, die – in einer Fortsetzung kolonialzeitlicher Aneignungs- und Verteilungslogiken – den als 'mächtig' definierten und verstandenen Institutionen vorbehalten sind, und ihnen vielmehr unhinterfragt überlassen werden – Stichwort: Mythos von der erfolgreichen Eroberung des Alls. 
Durch eine Teilhabe wie beim Projekt mur.sat kann ein anderer, mehrdimensionaler Umgang mit Satelliten, Weltraum und damit nicht zuletzt mit unseren politischen Handlungsspielräumen möglich werden und in die künstlerische Praxis einfließen.
Es ist work in progress, eine Serie von Experimenten, ein Austesten und Durchspielen von und mit Möglichem nicht nur auf künstlerischer oder technischer, sondern auch auf bürokratischer oder juridischer Ebene. So wurde 2011 das erste Satelliten-bezogene Gesetz in Österreich verabschiedet – weil u.a. MURSAT1 eine Lizenz braucht.


Bei der Auseinandersetzung mit Satelliten geht es nicht nur darum, die Willkür von Erfolgserzählungen aufzuzeigen, wie sie im Bezug auf Raumfahrt, Weltall und Satellitentechnologie so typisch sind und viel zu oft erzählt werden. Es gilt auch, die Bilder und Topoi zu hinterfragen, die den Mythos von der erfolgreichen Eroberung des Alls so glaubhaft machen und andere Sichtweisen, ja die schiere  Möglichkeit anderer Erfahrungen und Wahrnehmungen von Raumfahrt verdecken. Seien es die unendlichen Weiten des Weltraums oder die “blaustrahlende Schönheit des Planeten Erde” (Maren Schwieger) von außen – so sehr diese Bilder und Motive unserem kulturellen Gedächtnis mit dem Zwang der Wiederholung aufoktroyiert sind, so wenig sind sie zwangsläufig. 
Deutlich wird das, wenn man sie mit anderen Bildern konterkariert: Bilder von Weltraummüll und einer Unmenge von Satelliten, die die Erde bereits mit einer erschreckenden Dichte umkreisen; Bilder, die vielmehr Ausdruck von Machtkalkül, Überwachungstechniken und hegemonialer Ansprüche denn der Schönheit unendlicher Weiten sind. Sie zeigen gleichsam die Kehrseite und sind als solche viel eher das zwangsläufige Produkt einer 'Eroberung des Weltalls' als die so häufig reproduzierte Lonely-Star-Ikonologie. 


Statt eine Erfolgsgeschichte als verkapptes Scheitern zu entlarven, geht es darum, die Möglichkeit von und die Freiheit zu anderen Bildern und Wegen der Bilderzeugung aufzuzeigen. Mitteilungen von (Welt)Raum, die in ihren Verfahren ebenso vielschichtig und -gesichtig sind wie in ihren Ergebnissen unbestimmt. 
Das Projekt zur Teilhabe am Weltraum: als Strategie der Umdeutung und Neuformulierung, als Praxis eines Raum(er)fahrens jenseits von Eroberung und Besetzung ist es aufs engste mit Formen und Methoden des Teilens und Verteilens verknüpft. Deswegen ist es logisch, alles in freier Soft- und Hardware zu entwickeln und allgemein zur Verfügung zu stellen. Es gilt, Fragen zu stellen und noch immer und immer wieder den Blick nach oben zu richten.


Weitere Arbeiten
Durch die Auseinandersetzung mit Satelliten und speziell MURSAT1 sind mittlerweile einige Kunstwerke entstanden. Diese Arbeiten entstanden in der Reflexion über mögliche Darstellungsformen für den MURSAT1 während seiner kurzen Lebensdauer (6 bis 8 Wochen). 


2011
Sonifikationen
Installationen, in der Ausstellung Möglichkeitsraster im steirischen herbst 2011.
Sonifikation ist die Übersetzung und Darstellung von Information in Klang. 
Jurij - Peter Venus
Von den Flugdaten jetzt existierender Satelliten gesteuert, erforscht diese Installation die persönliche Wahrnehmung von Zeit, auf der Suche nach den individuellen kognitiven Fähigkeiten, aus der Umgebung einzelne Details herauszuhören.
Coallision - Jogi Hofmüller
Die Positionsdaten (TLE) einiger der Trümmerteile aus der Kollision von Iridium 33 und Kosmos 2251  bestimmen die Klanginstallation. Jedem verwendeten Bruchstück wird ein Klang zugeordnet; diese Samples entstanden in Zusammenarbeit mit Leon Leder.
Die dafür notwendige Software schrieb Jogi Hofmülller während eines Worklabs. 
TLE -> OSC -> PD (s. http://sat.mur.at/releases/)
Sonifikationen – Performances beim musikprotokoll 2011

Raumsonde Venus Wega  - Peter Venus und Marian Weger
Auf dieser akustischen Milchstraßenkreuzfahrt wird irdisches Klang- und Bildmaterial mittels digitaler Macht verarbeitet und quer durch den Hyperraum an vier elektromagnetische Schallwandler geschickt, die die Informationen direkt in die Ohren der Konzertbesucher schicken. 

Satellitenkonzert - Jogi Hofmüller
In einem vordefinierten Zeitfenster werden die über den jeweiligen Aufführungsort fliegenden Satelliten gesucht und ausgewählten Klängen zugeordnet; die vorhandenen Maschinen (=Satelliten) bestimmen das Klangereignis.

Windsong - Reni Hofmülller
Der Überflug des Wettersatelliten NOAA 15 wurde aufgezeichnet; die Wiedergabegeschwindigkeit der Aufzeichnung wurde mitbestimmt durch aktuelle Wetterdaten. 

2012
in caelum - Peter Venus und Marian Weger
in caelum ist eine immersive Medieninstallation, die auf einer Panoramaprojektion mit ambisonischem Ton basiert. Sie baut auf 2 Elementen auf: 1) eine 360Grad-Videokamera und 2) Positionsdaten von Satelliten, die in Echtzeit berechnet werden und die Installation kontrollieren. in caelum beobachtet die Satelliten über uns und visualisiert und sonifiziert sie in dem Moment, in dem sie über uns ziehen. 
In caelum ist in freier Software entwickelt, die Projektion wird in Pd-Extended realisiert, die beiden Künstler programmierten dafür Extended  View (http://extendedview.mur.at/); die Information über die Positionsdaten erhalten sie von Jogi Hofmüllers Softwarepaket. 
Coallision II - Jogi Hofmüller
Die Positionsdaten (TLE) einiger der Trümmerteile aus der Kollision von Iridium 33 und Kosmos 2251  bestimmen die Klanginstallation. Jedem verwendeten Bruchstück wird ein Klang zugeordnet; das Klangspektrum dafür entstand in Zusammenarbeit mit Leon Leder.


Airflow - Ballonflugvertonung, Video 2012
Der Hintergrund: wir müssen wir die Kommunikationsmodule des MURSAT1 testen. Die beste Möglichkeit besteht in der Montage auf einem Wetterballon, weil wir den zurückbekommen können. Uns wurde eine HD-Videoaufnahme eines derartigen Fluges zur Verfügung gestellt und wir haben diese – in 23 unterschiedliche Schnipsel unterteilt – an 23 KünstlerInnen zur Vertonung übergeben: Reni Hofmüller, Alien Production, Patrizia Oliva, Anna Kropfelder, Neuf Meuf, rain in milan, Adam McCartney, urkuma, Kauders, Stroblak, Lepenik, Michael Fischer, Grit Ruhland, Yulan Yu, Styrian Improvisers Orchestra, Cherry Sunkist, Mussurunga, Jikuuuuuuuuu, Maja Delak and Luka Prin?i?, Caroline/Seda, Herbst, Rdeca Raketa, ooo / Höfler 


Worklabs
In 3 - bis 4tägigen Worklabs entwickeln und erarbeiten die TeilnehmerInnen Lösungen für die verschiedenen Herausforderungen: Hard- und Software, künstlerische Projekte, Texte, allgemeine Materialien. Da wir in unserer Arbeitsweise keine andere gemeinsame Zeitstruktur haben, dient uns diese Form als Möglichkeit zum auch informellen Austausch.


Radiosendung
Von August 2011 bis September 2013 haben wir 4wöchentlich die mur.sat-Radiosendung auf Radio Helsinki, 92.6 FM in Graz mur.sat-radio gestaltet. 
Die Sendungen wurden archiviert und sind im Projekt-Wiki und in der Radio-Onlinedatenbank CBA, Cultural Broadcasting Archive http://cba.fro.at zur Weiterverwendung veröffentlicht.